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Dr. Daniel Delhaes

9. Soziales System Medien – Leistungen für das politische System

9.1. Zu den Funktionen der Medien

Gesellschaftliche
Perspektive

I

II

Personenbezogene Perspektive

III

IV


Funktion

Anschlussfähigkeit

Gemäß der in der Einleitung beschriebenen Matrix und der zugehörigen Themenbereiche erfolgt in diesem Unterkapitel die Abhandlung mit Quadrant I.

Die klassische Politikwissenschaft hat ein deutlich definiertes Bild von der Funktion der Medien im politischen System, das sich allerdings in weiten Teilen auf eine Analyse aus den sechziger Jahren beruft.1 Die in der Arbeit beschriebene normative Erwartungshaltung an die Medien wurde in der Zwischenzeit enttäuscht. Dies allerdings hat bis heute zu keinem befriedenden Ergebnis geführt. Interessant ist es daher zu fragen, welche Rolle die Medien real im politischen System spielen. Es verwundert, dass die Politikwissenschaft dieser Fragestellung und generell dem Thema Medien so wenig Raum gibt.2 In nahezu allen politikwissenschaftlichen Feldern spielen Kommunikation und im Besonderen die Medien eine Rolle, die es zu überprüfen lohnt. So etwa bei Wahlkämpfen, in der politischen Kommunikation, die durch den Untersuchungsschwerpunkt „Aspektemanagement“ an Bedeutung gewinnt, wie in dem untersuchten Feld der gegenseitigen Rückkopplung im politischen Tagesgeschäft. Dabei zeigen die Ergebnisse der Umfrage dieser Arbeit, dass natürlich immer der Anspruch des politischen Systems besteht, politische Inhalte über die Medien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Drei wesentliche Funktionen analysieren die Politikwissenschaften im Allgemeinen, die Medien im politischen System erfüllen sollten. Die Disziplin registriert zwar, dass sie nicht erfüllt werden, doch welche Leistungen erbringen sie für Gesellschaft und vor allem für das politische System?

Gemäß der politikwissenschaftlich definierten Informationsfunktion berichten Medien über Geschehnisse und Meinungen – und zwar vollständig, objektiv und verständlich. Medien informieren, indem sie berichten. Normative Zuweisungen erfüllen sie indes nicht, wie aus Sicht der Systemtheorie und dieser Arbeit gezeigt wird. Das soziale System Medien operiert nach der Codierung Information/Nicht-Information. Auch die mehrheitliche Meinung im Rahmen der Befragung dieser Arbeit, dass vor allem „Aktualität, Neuigkeitswert, Exklusivität“ den Ausschlag für Berichterstattung geben, zeigt, dass die Medien aus der Perspektive der Verbreitung von Informationen, ihre Informationsfunktion erfüllen. Ungeklärt ist aber, ob die Medien neue Informationen in erster Linie verbreiten, um andere Systeme über die Information zu informieren, oder ob nicht vielmehr die neue Information verbreitet wird, um neue Kommunikation an die verbreitete Informationen anzuschließen.

Anders gesprochen: Nicht jede Information, die für das politische System eine Information ist, muss auch für das soziale System Medien eine Information sein. Daran lässt sich jederzeit normativ Kritik üben, die aber ihrerseits nicht zielführend ist. Mit den Ergebnissen zum empirischen Teil dieser Arbeit wurde deutlich, dass die Medien der „inhaltlichen Tragweite“ eines Themas nicht unbedingt oberste Priorität einräumen. Das soziale System Medien definiert die „inhaltliche Tragweite“ nicht im Sinne des politischen Systems, sondern gibt den Themen jene Priorität, die sie allein für das soziale System Medien besitzen. Es geht in den Medien weniger darum, umfassend und im klassischen Sinne „objektiv“ zu berichten, wie in der Politikwissenschaft gefordert. Vielmehr geht es darum, „Anschlussfähigkeit“ zu provozieren. Politik ihrerseits ist auch nicht zwingend daran interessiert, objektiv über die eigene Arbeit zu informieren. Informierung dient politisch betrachtet dem Machterhalt und wird entsprechend gesteuert.

Die Artikulationsfunktion aus Sicht der klassischen Politikwissenschaft unterstellt, dass Medien zu aktuellen Themen alle relevanten Interessengruppen zu Wort kommen lassen, ihnen also eine Öffentlichkeit bieten. Vor allem sollen, so die Annahme, über die Medien auch Minderheiten und Schwache zu Wort kommen, die ansonsten in den politischen Entscheidungsprozessen keine wesentliche Rolle spielen würden. Die Polity-Dimension beschreibt, dass Verbände und Interessengruppen bei jedem politischen Entscheidungsprozess zu Wort kommen. Minderheiten hingegen finden dort ebenso wenig ihren Platz wie in den Medien. Dies bestätigen auch die Ergebnisse des empirischen Teils der Arbeit. Wenn vor allem der Druckpunkt „Prominente und deren Meinung“, also die „Personalisierung“ darüber entscheidet, ob Themen in den Medien stattfinden, dann verdeutlicht dies die Tendenz, Machtträger zu Wort kommen zu lassen. Ihre Äußerungen spielen vor allem auch deshalb eine Rolle, weil damit der ebenfalls häufig genannte Druckpunkt „Konflikte“ bedient wird. Prominent kann im politischen System aber grundlegend mit „machthabend“ gleichgesetzt werden. Nur der Machthabende ist in der Lage, durch seine Kommunikation Resonanz an anderer Stelle zu erzeugen, weil seine Äußerung die Umwelt anderer beeinflussen kann. Es entsteht so Kommunikation und Information, die Leitcodierung für das soziale System Medien. Minderheiten erlangen indes erst dann Publizität, wenn sie die Chance besitzen, auf die Leitcodierung Macht/Nicht-Macht Einfluss zu nehmen.

Daher erzeugen Äußerungen von Prominenten regelmäßig Anschlussfähigkeit im medialen System. Wenn der Bundeskanzler sich zu einem Thema äußert, kann vermutet werden, dass seine Aussagen aufzeigen, welche Meinung die Regierung vertritt und welche Ziele sie schlussendlich verfolgt. Äußert sich dagegen ein Oppositionsführer zum selben Thema, dann demonstriert dies maximal eine Alternative zur bestehenden Meinung der Regierung, mehr aber nicht. Die Meinung der Opposition hat in der Regel keine Entscheidung zur Folge. Besonders deutlich wird dies, wenn sich „einfache“ Abgeordnete öffentlich äußern und keine Rezeption erfahren. Macht beschleunigt Kommunikation, folglich finden Minderheiten weniger Beachtung in den Medien.

Die Umfrageergebnisse haben gezeigt, dass vor allem Politiker beklagen, es finde in den Medien eine Personalisierung statt, die in diesem Maße ungerechtfertigt sei. Medien dient die Personalisierung allerdings dazu, die Themen einfach darzustellen und zugleich unterhaltend zu wirken, wie auch die Umfrage dieser Arbeit gezeigt hat.

Die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien gegenüber Regierung, Parteien und anderen Entscheidungsträgern erfolgt immer wieder, wie diverse Affären in der Vergangenheit gezeigt haben. Dazu zählen die Parteispendenaffäre der CDU, die Immobilienaffäre von Kanzleramtsminister Bodo Hombach, die Flugaffären um Bundespräsident Johannes Rau und Bundesfinanzminister Hans Eichel oder die Steueraffäre um Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt. Auch im Rahmen des empirischen Teils dieser Arbeit zeigte sich, dass „Normverstöße, Skandale, Krisen, Sensationen, Katastrophen“ Einfluss auf die Auswahl von Themen in den Medien spielen können. Dabei reagieren Medien auf eigene Druckpunkte, die, übertragen auf das politische Systeme, einer Kritik- und Kontrollfunktion gleichkommen. Die Medien folgen hier bestimmten Schemata des politischen Systems, die den Druckpunkten „Exklusivität“, „Prominenz“ und so weiter genügen.

Zwar ist es nicht irrelevant, ob ein Prominenter des politischen Systems einer Affäre ausgesetzt ist. Wichtig ist, dass mit der Affäre bestimmte Formen in Gang gesetzt werden, nach denen Medien produzieren und reproduzieren – und ebenso das politische System. Die Folge sind eine Vielzahl von Operationen, also Kommunikation und damit Information, die Leitcodierung der Medien. Dabei besteht noch die große Chance des final meist vorbestimmten Ausgang – der Rücktritt.3

Um mindestens eine Dimension muss die klassische Sichtweise der Politikwissenschaft zwingend ergänzt werden: die Dimension der Unterhaltung. Sie spiegelt sich bereits bei der Kontroll- und Kritikfunktion, wenn Skandale etwa für eine Vielzahl des Publikums Voyeurismus bedeutet. Es zeigt sich aber auch mit Blick auf die inhaltliche Tragweite politischer Themen. Dabei wird etwa personalisiert. Dies unterhält auf der einen Seite, hilft aber, den Sachverhalt besser erzählen zu können, kurz: einem Zusammenhang die Komplexität zu nehmen. Dabei gilt aber festzuhalten, dass nicht die Medien zwingend verantwortlich für die von Seiten der Politik beklagten Personalisierung: Politik selbst treibt die Personalisierung voran, um ihrerseits in der politischen Öffentlichkeitsarbeit Zurechenbarkeiten von Entscheidungen durchzusetzen und somit auch Images von Einzelpersönlichkeiten zu bilden (wie bei Bundesfinanzminister Eichel in dieser Arbeit beschrieben).

Abbildung 1: Unterhaltung als Darstellungsform

Einer der befragten Journalisten formulierte folgende Antwort, um zu erklären, nach welchen Kriterien ein Thema medial aufbereitet wird:

„Wie populär ist ein Thema? Hat es Bezüge zum Alltag der Menschen? Lässt es sich personalisieren? Lässt sich ein Verlierer daraus basteln, ein Held, eine tragische Figur? Birgt das Thema Potenzial für einen Streit in der eigenen Partei? Wenn auch noch personelle Konsequenzen möglich erscheinen, ist es allemal gut thematisiert zu werden, versinkt dann aber auch ebenso schnell wieder in der Belanglosigkeit. [...] Je inhaltlich weitreichender ein Thema ist, je komplexer und auch theoretisch anspruchsvoller, um so schwieriger wird die Auseinandersetzung in den Medien. Und umso dürftiger. [...] Unglaubliches Interesse fand stattdessen eine Entführung auf den Philippinen (bis hin zu einem „SPIEGEL“-Titel), auch wenn in der gleichen Titelgeschichte zu lesen war, dass es ziemlich unwahrscheinlich für Touristen ist, Opfer einer Entführung zu werden.“

Quelle: Eigene.

Den Medien geht es letztlich darum, Verlierer und Gewinner zu konstruieren, so dass der Leser teilnehmen kann, sich auf eine Seite schlägt und entsprechend mitfühlt. Skandale wirken daher hochgradig unterhaltend, indem sie Empörung hervorrufen oder bis zur Skurrilität erheiternd wirken.

Die Bedeutung der Unterhaltung nimmt in den Medien zu. Für das politische System birgt das ebenso Vorteile: „Sowohl die Effektivitäts- und Legitimitätsurteile als auch die Identifikation mit der politischen Gemeinschaft und das Institutionenvertrauen werden durch die Rezeption medialer Unterhaltungsangebote positiv beeinflusst. [...] Vielnutzer unterhaltender Medien und Medieninhalte haben ein positiveres Bild von der Politik. Das würde dafür sprechen, dass die unterhaltenden Medien und Medieninhalte ein eher positives Bild vom Zustand der Bundesrepublik und unserer Gesellschaft vermitteln und auf diese Weise systemstabilisierend wirken.“4 Wolling hatte zuvor alle wesentlichen Publikationen aufgezeigt, die die These nahe legten, dass die Art und Weise der Berichterstattung der Medien zur Politikverdrossenheit beitrüge:5 Seine empirischen Daten ließen diesen Schluss dann aber nicht mehr zu. Weder das Fernsehen beeinflusse die Einstellungen der Menschen, noch die Printmedien. Vielmehr verändere die Einstellung zur Politik die Nutzung der Medien. Diese These bestätigte bereits 1991 Donsbach:6 Er zeigte, dass Leser dazu neigen, ihre eigenen Einstellungen lesen zu wollen. Das heißt, dass die eigenen Einstellungen der Journalisten in der Nachrichtenproduktion zurückstehen müssten, um den externen Zwängen wie Wirtschaftlichkeit Rechnung zu tragen. Oder anders herum: Der Leser sucht sich sein Medium aus, durch das er sich und seine Meinung am besten vertreten fühlt. Dabei spielt bei allen eine Rolle, Politik entsprechend „leicht verdaulich“ und damit unterhaltend aufzubereiten.

Durch die unterhaltende Darstellung fällt es breiten Teilen der Bevölkerung leichter, politische Probleme zu verstehen. Dabei muss ein Problem nicht in seiner Gänze erfasst werden. Im Gegenteil: die abschließende Meinung, das Verstehen der möglichen Handlungsoptionen ist entscheidend für die Wähler, nicht die Komplikationen auf dem Weg hin zu dieser Meinung. Unterhaltung bedeutet letztlich nichts anderes, als „ein Gespräch führen“:7 Medien bieten dieses Gespräch an. Mit der Fortentwicklung der modernen Gesellschaft wandelt sich auch die Rolle der Medien und damit das Selbstverständnis der Journalisten. „Es mag banal erscheinen, wird aber selten explizit formuliert: dass und wozu der Journalismus gebraucht wird, der mit der Modernisierung entstanden ist, muss sich aus der Beschaffenheit, den Strukturmerkmalen der modernen Gesellschaft herleiten lassen.“8

Es zeigt sich, dass das System Medien unter eigenen, spezifischen Gesichtspunkten selektiert. Kritik und Kontrolle erfolgen ebenso unter einer systemeigenen Sichtweise und nicht, wie dies vom politischen System eingefordert wird. Weil die Medien ihrer eigenen Systemlogik folgen, fällt es der Politik schwer, das System in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Die Leistung der Medien aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft besteht nicht darin, ausschließlich Sprachrohr der Interessen zu sein. Dabei steht außer Frage, dass die Berücksichtigung dieser Artikulationsfunktion seine Wirkung auf das politische System nicht verfehlt. Immerhin artikuliert der Wähler mit seiner Stimmabgabe nicht dauerhaft Inhalte und Einstellungen. Diese bilden sich innerhalb einer Legislatur und können sich vor allem auch ändern. Werden sie artikuliert – und dies muss nicht allein über die Medien erfolgen – so kann dies entsprechend Wirkung im politischen System erzeugen. Dies resultiert aus der Tatsache, dass das politische System nach der Codierung Macht/Nicht-Macht beziehungsweise Regierung/Opposition selektiert und entsprechend versucht, sich und die Wählerklientel zu beobachten, um sich der vermuteten Mehrheit anzupassen.9

9.2. Leistungen des sozialen Systems Medien

Gesellschaftliche
Perspektive

I

II

Personenbezogene Perspektive

III

IV


Funktion

Anschlussfähigkeit

Gemäß der in der Einleitung beschriebenen Matrix und der zugehörigen Themenbereiche erfolgt in diesem Unterkapitel die Abhandlung mit Quadrant II.

Die Kommunikation des Mediensystems und des politischen Systems erfolgt jeweils unter anderen Kriterien. Vor allem entscheidet die Anschlussfähigkeit über Erfolg und Misserfolg der Kommunikation. Die Codierung für das System Medien lautet im Sinne der neueren Systemtheorie Information/Nicht-Information, während das politische System der Codierung Macht/Nicht-Macht folgt. Entscheidend für das politische System ist letztlich, zu welchem Zeitpunkt welche Themen anschlussfähig im eigenen System sind. Anschlussfähigkeit resultiert immer auch aus der Kontextbezogenheit. Je nach Ausgestaltung der Umwelt, ist Kommunikation folglich anschlussfähig oder nicht. Diese Zusammenhängen machen Kommunikation hochgradig unberechenbar.

Kontingenz registrieren auch Journalisten. Daher haben sie in den seltensten Fällen eine Erklärung dafür, woran es gelegen hat, dass ein Thema zum Titelthema oder in anderer Art und Weise eine Karriere absolviert hat. Entsprechend mangelt es in letzter Konsequenz im sozialen System Medien an allgemeinverbindlichen Selektionskriterien, die als Garant dafür gelten könnten, dass ein Thema in den Medien eine Karriere durchläuft und damit Kommunikation prognostiziert werden kann. Soziale Systeme sind nicht-triviale Maschinen, wie im ersten Teil der Arbeit beschrieben wurde.

Wenn Journalisten solche Erkenntnisse öffentlich äußern, erfolgen in der Kommunikationswissenschaft vereinzelt heftige Gegenreaktionen. So hat auch Rössler mit folgendem Ausspruch von Wolf von Lojewski, Redaktionsleiter der Nachrichtensendung „heute journal“ beim ZDF, einen Aufsatz10 eingeleitet: „Kriterien gibt es nicht, kann es auch nicht geben. [...] Und dass es Überschneidungen gibt mit anderen Nachrichtensendungen wie den Tagesthemen, liegt am gelernten Instinkt der Journalisten [...] Vielleicht ist es so, wie sich alle Zugvögel im Herbst verabreden, nach Süden zu fliegen. Aber letztlich ist es nicht zu erklären.“11

Rössler wertet die Aussage Lowjowskis als „Zugvogelthese“ ab. „Dieses Statement frappiert nicht nur ob seiner pauschalierenden Formulierung – es verleiht dem Journalisten eine besondere, geradezu naturgegebene biologische Veranlagung, die ihn zum Ausüben seines Berufs befähigt. [...] Aus dem Bauch heraus treffen sie Selektions- und Publikationsentscheidungen, die sich auf unerklärliche, schier wundersame Weise dann doch zu einem Muster der Nachrichtengebung verdichten.“12 Was Rössler als „pauschalierende Formulierung“ benennt, zeigt vielmehr, dass Selektionsverfahren im sozialen System Medien derart komplex sind, dass akteursbezogene Aussagen immer unbefriedigend sein müssen. Der Journalist ist damit kein Naturtalent oder Hexer, der immer wieder die richtige Nachricht auswählt, sondern es ist das System, das innerhalb seiner Selbstreferenz entscheidet, welche Themen zu welchem Zeitpunkt kommuniziert werden und welche dagegen nicht in die Öffentlichkeit dringen.

Die Leistung des Mediensystems besteht darin, Kommunikationsangebote bereitzustellen. So gesehen hat jede Kommunikation Chance auf Publizität, wenn sich an sie neue Kommunikation anschließen lässt beziehungsweise diese vermutet werden kann. Wenn Journalisten nicht genau formulieren können, weshalb ein Thema vom sozialen System Medien bearbeitet wird, und wenn die in der Befragung genannten Druckpunkte der Pressesprecher und Politiker zudem mehrheitlich zutreffen, dann entsteht ein Kommunikationsproblem für politische Akteure: Wenn er weder Neuigkeiten zu vermelden hat (weil er nicht Regierungsmitglied ist) und selbst im politischen System nicht prominent ist, dann kann er sich nur Druckpunkte wie „Skandale“ oder „Konflikte“ zu Nutze machen, um im System Medien mit seinen Äußerungen Anschlussfähigkeit herzustellen und damit zitiert zu werden. Den Pressesprechern, die auch diese Politiker vermarkten müssen, bleibt neben der Neuigkeit, für welche die vertretene Institution sorgen muss, nur die mediengerechte Aufarbeitung als Handwerk, die „Originalität, Exotik“, um Resonanz in den Medien zu finden. Dies untermauert die Feststellung aus dem empirischen Teil dieser Arbeit, dass die inhaltliche Tragweite eines Themas eine untergeordnete Rolle dabei spielt, ob es medial Karriere macht oder nicht.

So wie die Medien versuchen, die Umwelt zu antizipieren, um Anschlussfähigkeit herzustellen, versucht dies auch die Politik. In weiten Teilen gelingt dies aber nicht, wie die Untersuchung von Brettschneider gezeigt hat. „Offenbar orientieren sich Regierungen, Fraktionen und Abgeordnete im Deutschen Bundestag durchschnittlich stärker an augenblicklichen Meinungsverteilungen als an Entwicklungen der öffentlichen Meinung.“13

Dieser Zusammenhang ist auch unter systemtheoretischen Gesichtspunkten plausibel. Machterhalt, der Leitcode des politischen Systems, gelingt nur dann, wenn der Machthaber der politischen Mehrheit folgt beziehungsweise sich nicht so stark von ihr entfernt, als dass sie ihm das Vertrauen und damit die Macht entziehen könnte. Brettschneider erklärt, dass die Responsivitätsformen ähnliche Bestimmungsfaktoren besitzen, etwa „mehrheits- bzw. wandelbezogene sowie themenbezogene Einflüsse“, nicht aber Merkmale der Akteure.14 Das heißt konkret, dass die eigene Logik des sozialen Systems Politik ausschlaggebend für die Themenauswahl ist und nicht die der einzelnen Akteure. Das System entscheidet zum Selbsterhalt im Sinne der Mehrheit. Würde es anders agieren, droht das System der Legitimitätsverlust. Entschieden wird entsprechend das, was die Mehrheiten zu sichern scheint und nicht das, was aus anderen Systemlogiken heraus als „vernünftig“ erkannt wird. Macht ist folglich das alles entscheidende Selektionskriterium, der Code, nach dem Politik entscheidet. Wer es ignoriert, verliert sie schnell und sieht sich einer neuen Mehrheit gegenüber. Entsprechend kommuniziert Politik nur das, was dem Machterhalt (im doppelten Wortsinn) dient.

Eine weitere Leistung der Medien besteht darin, die einzelnen Systeme innerhalb einer Gesellschaft zu verknüpfen. Die Massenmedien, die durch sie hergestellte Öffentlichkeit, verdeutlichen die einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft und zeigen, dass diese Systeme interne Grenzen besitzen, die nicht überwunden werden können. Medien machen das Wissen dieser Systeme transparent und legitimieren dies als Dienst an der Öffentlichkeit. Je weiter sich die Gesellschaft ausdifferenziert, desto bedeutsamer wird es, dass die einzelnen Systeme über die anderen Systeme informiert werden, um Gesellschaft weiterhin aufrecht zu erhalten. Diese Kommunikationsleistung bieten die Medien.

Öffentliche Meinung dient dem politischen System somit zur Beobachtung zweiten Grades – und darin liegt eine weitere, wesentliche Leistung des sozialen Systems Medien für das politische. Politik kann sich reflektieren und vor allem die Erfolgschancen des eigenen Handelns gemäß der eigenen Leitcodierung überprüfen. „Auch das politische System ist mithin, es wäre sonst kein System, nur im Rahmen der Eigenfrequenz resonanzfähig. Es kann nur machbare Politik machen, und die Bedingungen der Machbarkeit müssen im System selbst geregelt und gegebenenfalls geändert werden. Politische Resonanz kommt vor allem dadurch zustande, dass die ‘öffentliche Meinung’ als der eigentliche Souverän differentielle Chancen der Wiederwahl suggeriert.“15

Medien können bei der Suche von Mehrheiten als Seismograph dienen. So können politische Ziele etwa vorsichtig an die Medien „lanciert“ werden, um so Reaktionen zu testen. Entsteht hochgradig Kommunikation, lässt sich ablesen, ob Mehrheiten zu erwarten sind. So stellt der Spin-doctor Schmidt-Deguelle fest: „Beispielsweise sollte im Zusammenhang mit dem Sparpaket die Absetzbarkeit von Bewirtungsspesen entfallen. Das war lange Zeit eine geheime Kommandosache im Hause. Aber keiner war sicher, wie das einschlagen würde, deshalb haben wir es getestet. Ich habe dem ‚Spiegel‘ den Plan gesteckt: Das Ergebnis war ein Aufschrei der Gastronomie, ein absehbarer Kommunikations-Gau mit Plakaten und Handzetteln in jeder Gastwirtschaft, die nicht gegen die Spesenritter zu Felde gezogen wären, sondern gegen den Finanzminister. Die positive Botschaft einer nachhaltigen Haushaltspolitik wäre kaum noch zu vermitteln gewesen.“16

Zugleich muss aber auch deutlich festgehalten werden, dass die Mehrzahl politischer Entscheidungen der Öffentlichkeit überhaupt nicht bewusst werden. Sie werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt. „Klaus von Beyme hat zeigen können, dass ein großer Teil der etwa 150 Schlüsselentscheidungen des Bundestages [in dem Untersuchungszeitraum seiner Arbeit] nicht oder kaum von öffentlicher Resonanz begleitet war.“17 Es kann sogar vermutet werden, dass bestimmte Gesetzesvorhaben in einer aufgeregten Umwelt bewusst umgesetzt werden, um von der Öffentlichkeit unbemerkt zu bleiben.18

Will das politische System Veränderungen gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen, muss es vorher Mehrheiten herstellen. Mehrheit muss konstruiert werden, um am Ende auch politisch Erfolg vorweisen zu können. Entsprechend erklärt sich auch, weshalb politische Entscheidungen und deren Popularität bestimmten Zyklen unterworfen sind. „Unmittelbar nach Wahlen entsprechen die parlamentarischen Handlungen der Mehrheitsmeinung und dem Meinungswandel am wenigsten, in den beiden Jahren vor der Wahl liegt die Responsivität über dem Durchschnitt.“19 Andersherum gesprochen kann in einem für das politische System unerwünschten Kontext aus Kommunikation Entscheidungsdruck entstehen. Es mag den Medien zugerechnet werden, sie hätten Druck auf die Regierung ausgeübt und damit dieses oder jenes Reformprojekt verhindert. Letztendlich aber produzieren Medien nur Kommunikation. Wie am Ende im politischen System tatsächlich entschieden wird, spielt für das soziale System Medien keine Rolle. Dies zeigt sich daran, dass nach einer Entscheidung in aller Regel nicht mehr über das entsprechende Thema berichtet wird. Wenn es ein Interesse der Medien an einer bestimmten politischen Entwicklung gäbe, würden sie indes auch nach einer Entscheidung weiter berichten, um Mehrheiten in der Bevölkerung zu generieren oder neuen Entscheidungsdruck zu entwickeln.

Im Falle der ersten beiden Regierungsjahre der rot-grünen Koalition war die Herstellung von Mehrheiten problematisch. Die klassischen und bewährten Muster der Mehrheitsbeschaffung über die systeminterne Kommunikation der Politik wurde zu Lasten der öffentlichen, medialen Kommunikation zurückgefahren und vernachlässigt, wie etwa die dauernden Indiskretionen im Fall Lafontaine/Hombach in dieser Arbeit gezeigt haben.20 Reformprojekte gelangten frühzeitig an die Öffentlichkeit, die entsprechend reagierte. Die Regierung bemerkte einige Monate nach dem Regierungsantritt, dass die Medien nicht im Sinne der Politik berichteten, dass heißt, dass sie nicht politisch positiv mit geplanten Entscheidungen der Regierung umgegangen sind, sondern Kommunikation an geplante Entscheidungen anschlossen. Die Medien dienten nicht mehr – wie noch im Wahlkampf - als Sprachrohr.

Fällt die öffentliche Kommunikation negativ für das politische System aus, kann davon ausgegangen werden, dass die entsprechende Entscheidung im politischen System nicht ausreichend vorbreitet worden war. Entsprechend wuchs in der Bundesregierung nach Amtsantritt der Wunsch nach systeminterner Kommunikation. Ende Februar 1999 etwa legten der damalige Chef des Bundeskanzleramtes, Bodo Hombach, und der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Frank-Walter Steinmeier, ein Strategiepapier mit „Kommunikations-Spielregeln“ vor. Das Kanzleramt als Schaltzentrale aller politischen Planungen und Entscheidungen innerhalb der Bundesregierung und der Regierungspartei wurde wieder aktiviert, nachdem sich vor allem Hombach auf seine Selbstdarstellung als auf die Koordination der Kommunikation der Bundesregierung konzentriert hatte. Kernaussage des Thesenpapiers: „Eine Koordinierungsaufgabe besteht, ihre Erfüllung ist zu optimieren und wechselnden Anforderungen anzupassen.“21 Im Kern sollten

die Abstimmungsprozesse unter den Ministerien verbessert werden;

zentrale Themen von den Ressortministern direkt mit dem Bundeskanzler abgestimmt werden;

politische Vorhaben der Ressortminister erst dem Kabinett und dann der Öffentlichkeit mitgeteilt werden;

die Ministerien einen Zeitplan politischer Vorhaben während der Legislatur vorlegen;

zur verbesserten Koordination Kabinettsausschüsse gegründet werden (etwa für das Bündnis für Arbeit oder den Atomausstieg22);

die Kabinettsdisziplin gestärkt werden und bei Verstößen der Minister in der nächsten Kabinettsrunde zur Rede gestellt werden;

die Interessen der SPD-regierten Länder frühzeitig sondiert und berücksichtigt werden;

Aktivitäten der Opposition verstärkt und gezielt beobachtet werden.


Erst nach der Umsetzung dieser Liste war es der Regierung wieder möglich, Mehrheiten und damit den Machterhalt zu sichern.23 Das politische System hatte wieder die Kontrolle über die Kommunikation errungen, genauer: Die Bundesregierung konnte relativ gut antizipieren, wie einzelne Kommunikatoren reagieren würden, wie also die zu erwartende Anschlussfähigkeit ausfallen würde.

Die Begriffe Informations- und Mediengesellschaft scheinen also aufgrund der bisherigen Analyse den Sachverhalt nicht zutreffend darzustellen. Wenn man sich an die Begrifflichkeiten anlehnen möchte, dann wäre am ehesten der Begriff von der „Kommunikationsgesellschaft“ der richtige. Es kann davon ausgegangen werden, dass vermehrt die Kommunikation gesellschaftliches Handeln bestimmt, weshalb auch das Internet als schnellstes Kommunikationsmedium einen Aufschwung erfährt.

Festzuhalten bleibt aber: Das politische System steht in einem konkurrierenden Kommunikationsverhältnis zu anderen Systemen. Weshalb sollten Medien über Politik berichten, wenn doch andere Systeme der Leitcodierung Information/Nicht-Information viel besser folgen und in höherem Maße auch der „Unterhaltung“ dienen? „Politik ist lange nicht mehr das Thema“, sagt der ehemalige Chefredakteur der „Bild“, Udo Röbel.24 Er spricht von der „überkickten Gesellschaft“ in der sich jedes Medium fragen müsse, wie es sich bemerkbar machen könne. „Jünger, nackter, härter“, laute das Motto. „Ich frage mich jeden Tage mehr: Ist man als Kommunikationsprofi in der Lage, diese Flut von Informationen zu verarbeiten?“ Jeden Tag registriere er als Chefredakteur fünf Millionen Wörter Agenturmeldungen. Weshalb also sollte Politik auf der Seite eins stattfinden, warum nicht im hinteren Teil der Zeitung, versteckt in einer Randspalte?

Politik hat dabei immer noch einen Vorteil, der es ihr womöglich garantiert, weiterhin eine gewichtige Rolle für die Agenda der Medien zu spielen: Politik ist hochgradig kommunikativ, weil sich Politik immer wieder öffentlich legitimieren muss, um Zustimmung zu erhalten. So lange viele andere Systeme nicht diese hohe Kommunikationsfähigkeit (oder auch den Zwang) besitzen wie die Politik, erhält sie sich auch weiterhin Schlagzeilen.

9.3. Selbstverständnis und Professionalität politischer Journalisten

Gesellschaftliche
Perspektive

I

II

Personenbezogene Perspektive

III

IV


Funktion

Anschlussfähigkeit

Gemäß der in der Einleitung beschriebenen Matrix und der zugehörigen Themenbereiche erfolgt in diesem Unterkapitel die Abhandlung mit Quadrant III.

Immer wieder zeigen Umfragen zum Selbstverständnis von Journalisten, dass die Berufsgruppe ihre traditionellen Werte verteidigt. Weischenberg stellte in der letzten, größeren Umfrage unter Journalisten fest, dass die Mehrzahl der Befragten komplexe Sachverhalte vermitteln und erklären will, sowie möglichst neutral und präzise informieren. Journalisten wollen die von ihnen wahrgenommene Realität genauso abbilden, wie sie ist und keine Nachrichten publizieren, deren faktischer Inhalt nicht bestätigt wurde.25

Gleichzeitig belegen die Ergebnisse der Umfrage in dieser Arbeit, dass die von den Journalisten genannten Selektionskriterien ein anderes Bild zeichnen. Selbstverständlich bleiben Kriterien, die im Sinne des journalistischen Ethos stehen, elementar. Die Ernüchterung erfolgt aber bei der Ausübung des Berufs. Bereits bei der Berufswahl zeigt sich, dass Journalisten sich aus einem hohen Ethos heraus motivieren. „’Nach einer langen Studienzeit möchte ich nun endlich etwas leisten, was nicht nur mir nutzt, sondern der Gesellschaft’, schreibt eine Kandidatin in ihrem Bewerbungsschreiben. Ein anderer Bewerber meint, sein zukünftiger Beruf solle vor allem eine Aufgabe für ihn sein: ‚Ich möchte hinter meinem Beruf stehen können, möchte mich engagieren.’ Es sind nicht wenige, die aus Idealismus dazu kommen, Journalist zu werden. Auch Weltverbesserer sind darunter, die meinen, in diesem Beruf könnten sie ihre Ideen von einer christlichen, friedlicheren, oder ökologisch verwandelten Welt einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen [...]. Die meisten möchten sich zwar für Werte wie Leben, Freiheit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetzen, sehen aber die Möglichkeiten der Medien, im Verhalten der Menschen etwas zu verändern, durchaus realistisch. ‚Für mich’, schreibt ein junger Mann, ‚lebt der Journalismus aus seiner kritischen Funktion. Sein Ziel ist die möglichst objektive und umfassende Darstellung von ‚Wirklichkeit’ mit dem Ziel sie zu verändern.“26

Dabei folgt in der Regel später die Ernüchterung, weil das soziale System nach anderen Kriterien arbeitet, als erwartet. Diese Kriterien hat diese Arbeit versucht zu verdeutlichen. Medien arbeiten entsprechend ihrer Leitcodierung und transformieren über die Publikation Information in Nicht-Information. Wer nicht regelmäßig Neues berichtet, wer seinem Leser nicht stets die Lektüre bietet, die er verlangt, leidet bald schon unter mangelnder Leserschaft. Wie bereits beschrieben, wünschen sich Leser Entspannung, Lebenshilfe, Lesevergnügen und mehr, was weniger mit dem anstrengenden Kampf der Journalisten um die Weltverbesserung zu tun hat.

Dennoch streben Journalisten danach, zum einen instinktiv die normativen Kriterien der Politikwissenschaft zu erfüllen, zum anderen aber auch im Sinne einer Wahrheit zu berichten. Der Grund ist simpel: Nur so kann sich das soziale System Medien von seiner Umwelt abgrenzen, um etwa nicht im sozialen System Literatur aufzugehen. Medien müssen immer wieder plausible Wirklichkeitsillusionen schaffen, um sich selber zu legitimieren. Insofern existiert keineswegs die Freiheit von Willkür in der Berichterstattung.

Das Selbstverständnis der Journalisten wurde bereits in einigen empirischen Untersuchungen näher beleuchtet. Zuletzt 1993 beschrieb Weischenberg, in welchem Licht sich Journalisten sehen. In seiner Studie „Journalismus in Deutschland“ wurden 1498 Journalisten nach ihrem Selbstverständnis befragt. Danach heben sie sich in ihren Einstellungen erheblich von der Bevölkerungsmehrheit ab.27 1984 stellte Claudia Mast folgendes Selbstverständnis unter süddeutschen Lokalredakteuren fest: Diese sehen sich als Vermittler, als Anwalt, also Stellvertreter des Lesers. Informieren wollen die Redakteure.28 Acht Jahre zuvor, 1976, versucht Jürgen Prott das „Bewusstsein von Journalisten“29 näher zu beschreiben. Nach der Befragung von Journalisten kam er zu dem Ergebnis, dass sich Journalisten leicht ironisch, zum Teil auch unsicher beschreiben. Sie fühlten sich als schöpferische Berufsklasse, als eine Art Schriftsteller aber mit hoher Verantwortung. Während aber die deutschen Vertreter sich indes stark als Wächter sehen und das Bedürfnis haben, „Fehlentwicklungen“ zu beeinflussen, kennen britische Journalisten diesen Anspruch nicht.30 Die deutsche Sichtweise deckt sich mit der bereits angesprochenen Erhebung der Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung Ende der 70er Jahre. Danach sieht sich der Journalist als Kritiker und Kontrolleur politischer und gesellschaftlicher Prozesse, der kulturelle und gesellschaftliche Normen und Werte hütet und als Erzieher hin zu einer gemeinsamen öffentlichen Moral gilt, der sich als Anwalt der gesellschaftlich unterprivilegierten und nicht oder nur ungenügend artikulationsfähiger Gruppen versteht.

Entsprechend verwundert es wenig, wenn Journalisten oft selbst nicht verstehen, nach welchen Kriterien bei der Themenauswahl das System Medien vorgeht. Argumentiert wird oft mit dem Verweis auf ein nicht näher zu definierendes „Gefühl“. „Der größte Teil von ihnen will die Welt so abbilden, wie sie ist, und hält es auch für möglich, dieses Ziel in der journalistischen Praxis umzusetzen.“31

Sind die Journalisten Konstrukteure der Realität, oder „objektive Beobachter“, also Realisten? Aufschluss bietet die Studie von Weischenberg: Zwei Drittel der Journalisten sehen sich als Berufsstand, der die Realität so abbildet, wie sie ist. Drei Viertel davon glauben, dass sie dies in ihrem Alltag auch erreichen. Damit nimmt rund die Hälfte der Journalisten die Position ein, die Realität abbilden zu wollen und dies auch zu erreichen. 60,9 Prozent der Befragten stimmen dem Ziel zu, nur solche Nachrichten zu veröffentlichen, deren Inhalt auch bestätigt wurde.32 Die wenigsten wollen die politische Tagesordnung beeinflussen.

Das Ethos der Journalisten legt die Arbeitsweise der Journalisten fest und sorgt für Selbstreinigungsprozesse innerhalb des sozialen Systems Medien. Zwar ist Journalismus kein Beruf, der in einer Ausbildungsordnung niedergeschrieben ist. Vielmehr existieren eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Ausbildung zum Journalisten zu absolvieren oder direkt in den Beruf einzusteigen. Von besonderer Bedeutung ist dennoch, dass Journalisten ihr Handwerk beherrschen müssen. Immerhin berichten Journalisten über andere, denen durch plötzliche oder permanente Publizität Schaden zugefügt werden könnte. Entsprechend werden hohe ethische Standards gesetzt. Dies verschafft Medien eine Sonderstellung in der Gesellschaft, die sie durch zugesagte Interessenneutralität, der Wirklichkeitsillusion, rechtfertigen.

Das heißt konkret: Wer gegen die Recherche-Regeln verstößt und damit offenkundig nicht ausreichend auf der Suche nach der „Wahrheit“ gewesen ist, muss mit Sanktionen im System Medien rechnen.33 Das gilt heute wie früher: „Trotz dieser selbstverständlichen Schwierigkeiten gehört das Streben nach Objektivität in der Berichterstattung zum Berufsethos des Journalisten, wenngleich es sorgfältiger Untersuchung bedarf, ob und inwieweit diese Wertvorstellungen für die Journalisten bindend sind.“34

Abbildung 2: Borderline-Journalismus

Tom Kummer, Autor beim Magazin der Süddeutschen Zeitung, hatte über Jahre Interviews erfunden und im SZ-Magazin publiziert. Er bezeichnete diese Art des Journalismus als „Borderline-Journalismus“ und fand im Interview sogar eine medientheoretische Begründung für seine Art des Journalismus.

Herr Kummer, haben Sie die Stars, mit denen Sie Interviews veröffentlicht haben, auch tatsächlich befragt?

Diese Frage ist mir zu eindimensional. Jedenfalls sind meine Interviews ein Werk der Montage, für das ich mich verschiedener Quellen bediene. Für mich gehört das zu meinem Verständnis von Journalismus, einer Art „Borderline-Journalismus“, wie es Ulf Poschardt mal genannt hat.

Was soll das sein?

Mir ging es immer darum, die Definition, was Realität ist und was Fiktion, in Frage zu stellen. Wenn ich schreibe, beginnt eine Implosion des Realen. Das „SZ-Magazin“ hat mir die Möglichkeit gegeben, diesen Borderline-Journalismus zu betreiben. Ich wollte die Medientheorie erweitern und dem Magazin Schillerndes abliefern.

Also haben Sie einfach die Stars schillernder gemacht, als sie sind?

Was ein Star unter PR-Kontrolle sagt, beleidigt den klugen Menschen. Ich wollte etwas anderes machen als all jene, die sich damit abgefunden haben, PR-Journalismus zu betreiben. [...]

Sie haben auch die Leser über die Echtheit Ihrer Interviews getäuscht.
Leser meiner Generation wollen unterhalten werden: Entertain me.[...]

Die Chefredakteure des „SZ-Magazins“ distanzieren sich jetzt von Ihnen Fühlen Sie sich verraten?

Die Chefredaktion wollte mit meiner Arbeit Zeichen setzen. Aber mir war klar, dass man mich bewusst auf Distanz hält, weil man mir keinen festen Vertrag geben wollte.

Quelle: „Der Spiegel“ (21) 2000, S.110.

Die Codierung Information/Nicht-Information reicht zwar aus, um innerhalb des sozialen Systems Medien Kommunikation anschlussfähig zu gestalten. Selbst die Falschaussage einer Person oder gar anderen Personen angedichtete Aussagen werden als Information identifiziert und damit anschlussfähig. So lange diese „Konstruktion“ von Realität nicht als „Lüge“ entlarvt wird, funktioniert dieses Vorgehen. Wenn ein solches Vorgehen aber publik wird und damit sowohl das Berufsethos als auch die Glaubwürdigkeit der Medien verletzt wird, sanktioniert das soziale System Medien dieses Vorgehen. Es muss um jeden Preis seine Wirklichkeitsillusion aufrecht erhalten. Gefährdungen jeder Art werden sanktioniert.

Es zeigt sich, dass Journalisten ganz bewusst an ihrem Ethos festhalten, ebenso an den Funktionszuschreibungen, die aus der klassischen Politikwissenschaft heraus erfolgen. Die „Suche nach der Wahrheit“, das Streben nach „Objektivität“, der Bereitstellung von Informationen, gleichzeitige Kritik an den Regierenden gehören zu diesem Repertoire. Die Aufrechterhaltung dieser Werte kann als eine der Wesensregeln des sozialen Systems Medien betrachtet werden.

9.4. Resonanz politischer Berichterstattung – journalistischer Erfolg

Gesellschaftliche Perspektive

I

II

Personenbezogene Perspektive

III

IV


Funktion

Anschlussfähigkeit

Gemäß der in der Einleitung beschriebenen Matrix und der zugehörigen Themenbereiche erfolgt in diesem Unterkapitel die Abhandlung mit Quadrant IV.

Der theoretische Teil dieser Arbeit hat offenbart, dass Medien im politischen System eine weit andere Rolle spielen als dies von Seiten der Politikwissenschaft zugestanden wird. Entscheidend für die Wirksamkeit der Medien gegenüber dem politischen System – wie auch umgekehrt – scheint die Anschlussfähigkeit der Kommunikation zu sein. „Für die Politiker geht es darum, bestimmten Ritualen ‚symbolischer Politik’ gerecht zu werden, die noch am ehesten das Risiko der Abwahl reduzieren. Für die Journalisten geht es darum, medienbestimmte Konstruktions- und Inszenierungsgesetze zu erfüllen, die nach aller Erfahrung die eigene Karriere befördern. Journalismus operiert nach Regeln, die systemintern durch das soziale System Medien vorgeben werden. Die selbstreferentiellen Systeme Medien und Politik lassen deshalb prinzipiell wenig Spielraum für eine Entscheidung zwischen einer politischen Kommunikation als Forum mündiger Bürger oder als Zirkus, in welchem dem Kampf um die Aufmerksamkeit alles andere untergeordnet wird.“35

Aus dieser Erkenntnis heraus leiten sich eine Vielzahl von Fragen ab, die die klassischen Begründungen der Politikwissenschaft für die Funktion der Medien im politischen System anders erscheinen lassen. Wenn Medien etwa über „Wahrheit“ berichten, ist diese dann zwangsläufig anschlussfähig im politischen System? Erzielt die Berichterstattung über das aufgegriffene Thema also Resonanz im politischen System? Nicht ohne Grund offenbaren die Ergebnisse der Umfrage, dass die „inhaltliche Tragweite“ selten darüber entscheidet, ob ein Thema medial Karriere macht oder nicht. Es spielt demnach weniger eine Rolle, ob die Medien „wahr“, „wahrhaftig“ oder „unwahr“ berichten. Entscheidend ist vielmehr, ob sie Themen oder Facetten eines Themas aufgreifen, die im politischen System anschlussfähig sind und somit auf der Ebene der Entscheider auf die Agenda gesetzt werden.

Objektivität, dass leitet sich aus dem radikalen Konstruktivismus und der neueren Systemtheorie ab, ist in seiner Form nicht existent. Viel bedeutender ist, das Medien viabel berichten. Das heißt, sie konstruieren Realität, die aber nicht im Widerspruch zur Außenwelt stehen darf. Das Berichtete darf nicht in Konflikt mit dem stehen, was gemeinhin als Wahrheit anerkannt wird. Viabilität lässt eine Vielzahl von Wahrheiten zu. Etwas ist so aber auch anders möglich. Es ist kontingent, aber nicht beliebig.

Jedes System unterliegt hierbei unterschiedlichen Freiheitsgraden. Während sie etwa im Wissenschaftssystem gering sind, besitzt das System Medien hohe Freiheitsgrade. Dies verdeutlicht die Vielzahl an Selektionkriterien und abgeleiteten Druckpunkten, die in dieser Arbeit untersucht wurden. Medien konstruieren nach festen Regeln, varieren aber unterschiedlich. Während etwa Boulevardzeitungen überwiegend auf die Verschlagwortung in der Umsetzung von Informationen setzen, verfolgen Sonntagszeitungen wie die „Bild am Sonntag“ oder die „Welt am Sonntag“ das Ziel, Kommunikation zu provozieren. Gemessen wird der Erfolg der Kommunikation zum einen über die Zitation in Agenturen und anderen Medien, zum anderen aber über Resonanz durch Betroffene etc. Entscheidend ist, ob sich das Thema in der Folge „hält“, was die Zitation in der Anfangsphase der medialen Themenkarriere garantiert. Andere Zeitungen wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ setzen auf die Erklärung von Sachverhalten, denn auf die Produktion neuer Kommunikation im Sinne der genannten Sonntagszeitungen.

In der Vergangenheit wurde immer wieder in Untersuchungen festgestellt, dass Medien vor allem Meldungen reproduzieren.36 Seltener sei der Anteil an Interviews, Hintergrundberichten und anderen. Dies wandelt sich aber. Verstärkt wird eine Ausgangsmeldung als Anlass für einen Artikel gewählt, in dem der Journalist Wertungen vornimmt, andere Meldungen integriert und eigenständig recherchiert. Erst durch diese Zusätze wird er in der Fachöffentlichkeit wahrgenommen und kann Karrierechancen entwickeln. Ebenso verhält sich die Wahrnehmung, wenn der Journalist häufig exklusive Sachverhalte melden kann. Medien beschränken sich somit längst nicht auf die Vermittlung von Informationen, sondern legen großen Wert auf die Eigenproduktion, die sich erst in der Zitation in anderen Medien spiegelt. Die Wahrnehmung in der Fachöffentlichkeit garantiert im positiven Falle Renommee und bedeutet, dass es gelungen ist, für Irritation im politischen System zu sorgen. Als erfolgreich gilt, wer Kommunikation generiert und im Anschluss auslöst. „Für die Journalisten geht es darum, medienbestimmte Konstruktions- und Inszenierungsgesetze zu erfüllen, die nach aller Erfahrung die eigene Karriere befördern.“37 Dagegen verliert der Journalist Respekt und Achtung innerhalb seines Berufsstandes, wenn er als „getarnter“ Öffentlichkeitsarbeiter einer Institution auftritt und sich zum reinen „Verlautbarungsjournalismus“ hinreißen lässt.

An dieser Stelle muss in Bezug auf das Selbstverständnis der Journalisten noch einmal differenziert werden. Die einen Vertreter handeln in dem Sinne, Kommunikation zu provozieren, wobei es schlicht keine Rolle spielt, in welche Richtung sich die anschließende Kommunikation bewegt. Entscheidend ist für diesen Typ, dass generell Kommunikation entsteht. Je nach Darstellung und Brisanz des jeweiligen Themas produzieren Medien aus dieser Rolle heraus Kommunikationsdruck. Der andere Typus von Journalist ist davon überzeugt, durch seine angebotene Kommunikation das politische System beeinflussen und damit steuern zu können. Diese Medienvertreter würden damit zugleich die These unterstützen, dass Medien eine Art „vierte Macht“ im Staate seien. Sie wollen nicht Kommunikation herbeiführen, sondern Entscheidungen. Zweifelsohne bedingt die Entscheidung Kommunikation im politischen System. Dies übersieht dieser Typus aber. Womit zugleich der grundlegende Systemfehler dieser Einstellung offenbar wird: Medien können allein Kommunikation anbieten, provozieren, aber nicht lenken. Entsprechend ist es auch unmöglich, bewusst Entscheidungen „herbeizuschreiben“. Ähnlich dem politischen System konstruiert dieser Typus Journalist Kausalitäten zwischen seiner Berichterstattung und politischen Entscheidungen, die sich ebenso wenig belegen lassen, wie die Thesen der Medienwirkungsforschung. Das jeweilige Selbstverständnis kann als Interpretation der Freiheitsgrade des sozialen Systems Medien betrachtet werden.

Für den Journalisten bedeutet dies, im jeweiligen Kontext Themen aufzugreifen, die im politischen System eine höhere Sensibilität besitzen als andere, um so vom politischen System wahrgenommen zu werden. „Ich bin ein Agenda-Setter, jeden Tag“, sagt etwa Udo Röbel.38 „Ich stehe jeden Tag unter dem Druck, das Thema des Tages zu finden. Da muss man genau hinhören.“

Die Auswahl des Systems Medien und die anschließende Wahrnehmung durch das politische System führen unter Umständen zu Kommunikation, die ihrerseits wiederum Kommunikation provoziert. „Dabei ist es eine verbreitete Annahme, dass die Massenmedien die öffentliche Meinung ‚manipulieren’ oder doch beeinflussen, ihrerseits ein Schema der öffentlichen Meinung, gleichsam eine Immunreaktion, mit der sie sich die Möglichkeit von Gegenreaktionen offen hält.“39 Es geht dem sozialen System Medien auch selbst nicht darum, zu manipulieren oder sogar die politische Agenda zu bestimmen. Es will allein Kommunikation über Information produzieren. Sicherlich wird das politische System etwa jedes Wochenende aufs neue durch die sogenannten „Wochenendknallfrösche“ irritiert, nur zeigt etwa die Eigenart dieses Phänomens, dass „konstruierte“ Themen keinerlei Chance haben, länger als zwei Tage in den Medien transportiert zu werden, also entsprechend lange für Anschlussfähigkeit zu sorgen. Anschlussfähigkeit wird allein aus dem Grunde kurzfristig hergestellt, weil die politischen Öffentlichkeitsarbeiter nie wissen können, ob auch ein skurriles Thema vielleicht nicht doch Karrierechancen besitzt. Vorsorglich kommuniziert man, um auf jeden Fall die Themenführerschaft zu übernehmen.40 Für Medien wird hier ein weiterer Freiheitsgrad offenkundig: Medien können eine konstruierte Realität bewusst über Zitate von Personen, absichern. Es erfolgt eine Externalisierung von Ungewissheit über Quellen.

So sehr die Journalisten als „naiv“ betrachtet werden – zumindest, wenn man den Prämissen des Konstruktivismus folgt -, so sehr ist es fast schon zwingend für sie, einem Ethos zu folgen, um überhaupt Anschlussfähigkeit herzustellen. Zwar mag es für den „einfachen“ beziehungsweise politisch unbeteiligten Leser schlussendlich von geringerem Interesse zu sein, ob eine Information wahr oder unwahr ist. Für ihn zählt mehr das unterhaltende Moment. Sobald aber eigenes Interesse tangiert wird, somit die Chance auf Anschlussfähigkeit steigt, ist der „Wahrheitsgehalt“ einer Information von großer Bedeutung. Deshalb muss der Journalist seine Glaubwürdigkeit erhalten, um eine erfolgreiche Karriere zu durchlaufen. Er darf durchaus seine konstruierte Wirklichkeit darstellen, sie darf aber nicht im Gegensatz zu anderen Wirklichkeiten stehen, müssen also immer wieder viabel sein. Im Extremfall erfolgt dies über Fragen. Von der Realität abweichende Konstruktionen werden so wiederum abgesichert und können thematisiert werden. Die Frage „Gibt es Ufos?“ erlaubt, über Ufos und gesichtete Ufos zu berichten, auch wenn es allgemein als unwahr betrachtet wird. Für Medien entsteht so Verhandlungsfähigkeit über die Realität und ihre Konstruktion.

Nun muss man noch nicht dem Glauben verfallen, dass über das durch die Medien entwickelte selektive Abbild der Welt Unwahres oder Falsches berichtet wird. Denn das Abbild stellt keine „falsche Welt“ dar, sondern lediglich einen Ausschnitt der Wirklichkeit mit dem Anspruch auf weitreichenden Überblick. Medien entscheiden immer wieder nach den systeminternen Selektionsregeln, worüber sie berichten und entscheiden daher nicht willkürlich. Die Bewertung erfolgt dabei nach der Resonanz und der Anschlussfähigkeit. Dabei entwickelt sich das System evolutionär, autopoetisch.

Eine wesentliche Spielregel ist und bleibt dabei, als Journalist in der täglichen Arbeit immer wieder Objektivität anzustreben. Das soziale System sichert sich so gegenüber anderen Systemen ab. Wichtig für die wissenschaftliche Auseinandersetzung bleibt aber, dass es sich hierbei um eine Fiktion von Objektivität handelt, da Objektivität und Realität in ihren absoluten Formen nicht existieren.